War es Zufall, dass Sebastian Osigwe beim SCK landete? Der junge SCK-Torhüter spricht von einer göttlichen Fügung. Ganz sicher ist es eine erstaunliche Lebensgeschichte, die noch nicht zu Ende erzählt ist. Eine Momentaufnahme.

Dass sich eine Fussballmannschaft unmittelbar vor dem Anpfiff eines Spiels zu einem Spielerkreis zusammenschliesst ist nichts Aussergewöhnliches. Kennt man. Die Spieler schauen sich in die Augen, der Captain brüllt sich die Lunge aus dem Leib, «eine dreifache Hundehütte», die Spieler schreien zurück: «Wau. Wau. Wau». Der Schiedsrichter pfeift, das Spiel beginnt. Solche Vorspiel-Rituale gibts landauf landab, an jedem Wochenende, auf jedem Fussballplatz. Auch bei der 1. Mannschaft des SC Kriens. Arm in Arm in der eigenen Platzhälfte, Sekunden vor dem Anstoss. Nur, beim SCK wird nicht ritualisiert gebrüllt, sondern andächtig gebetet. Häufig Psalm 23. «Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser…».

(Bild: Roger Keller)

Zeremonienmeister dabei ist Sebastian «Sebi» Osigwe. SCK-Torhüter mit starkem Glauben und nigerianischen Wurzeln. Er kniet umgeben von seinen Mannschaftskollegen auf dem Platz und zitiert die Bibel. Auf Englisch. So wie es Fussballspieler aus seinem Vaterland vor jedem Training, jedem gemeinsamen Essen und jedem Spiel machen. Unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Muslime und Christen gemeinsam. Hautnah miterlebt hat Sebastian Osigwe diese Spiritualität vor einigen Jahren auf einer Vorbereitungstour mit der U20-Nationalmannschaft Nigerias – auf der Gott stets mitreiste. «Wir haben zusammen Lieder gesungen und getanzt, vor jedem Spiel und Training.» Inspirierend sei das gewesen. Osigwe hat das Ritual mit nach Hause genommen und später beim SCK eingeführt. «Tanzend betreten wir den Platz in Kriens zwar nicht, aber es ist zur Tradition geworden, dass ich direkt vor dem Spiel für uns und übrigens auch für den Gegner und die Schiedsrichter bete. Damit wir alle das Feld wieder gesund verlassen.»

Glauben und Herkunft haben bei Osigwe einen direkten Zusammenhang. Zwar wuchs er in Ebikon auf, sein nigerianischer Vater aber gab ihm Gott mit auf den Lebensweg. Der Vater, selber ein talentierter Nachwuchsfussballer und mit Nigerias U17-Nationalmannschaft 1985 Weltmeister, musste seine Aussichten auf den bezahlten Fussball früh begraben. Ein Torhüter, ausgerechnet, zertrümmerte ihm in Nigeria das Knie dermassen arg, dass die Folgen bis heute spürbar sind. Den Fussball hat er dennoch nie aus den Augen verloren. Er fiebert mit, wenn sein Sohn auf dem Platz steht – zu hören bei praktisch jedem SCK-Spiel. «Er ist laut, ruft und schreit. Das war schon so, als ich als Junior auf dem Feld stand», erzählt der Sohn.

Tod der Mutter
Als Sebastian Osigwe 18. Jahre alt war, zog er zu ihm nach Emmenbrücke, wo Vater und Sohn bis heute eine Wohnung und die Fussballbegeisterung teilen. Eine Begeisterung, die für Osigwe oft Segen und Fluch zugleich bedeutete. Seine Mutter starb an Brustkrebs als er 12 Jahre alt war. Die Halbschwester, 15 Jahre älter, übernahm die Mutterrolle, weil Sebastian Osigwe Ebikon wegen seiner Fussballfreunde nicht verlassen wollte. Der Fussball half, die Trauer zu verarbeiten. Osigwe lernte früh selbständig zu sein, «auch wenn meine Schwester sehr gut zu mir schaute.» Beim FCL spielte er sich durch die Juniorenteams. Er war talentiert. Tolle Reflexe. Sicher bei hohen Bällen. Aufgebote für die Juniorennati der Schweiz kamen. Einsätze im Nati-Dress gabs allerdings keine. Yvon Mvogo und Mirko Salvi standen ihm stets vor der Sonne.

Es gab dort Spieler von Arsenal und ich kam halt von Emmenbrücke.

Aber, es gab nur Fussball. Keine Ausbildung. Osigwe besuchte eine Handelsschule und absolvierte Sprachkurse. Mit 18 Jahren verliess er den FC Luzern ohne Abschluss. Und seine Wanderschaft durch die Fussballwelt begann. Erste Stadion: Emmenbrücke. 2. Liga Interregional. «Eine Notlösung», sagt Osigwe heute. «Ich musste ja irgendwo spielen.» Er blieb eine Saison, reiste aber immer wieder für Probetrainings ins Ausland. Vom Fussball leben, das war sein erklärtes Ziel. Vorzugsweise ausserhalb der Schweiz. Osigwe spielte bei den Queens Park Rangers vor, reiste darauf gar nach Israel zum Probetraining. Zur Verpflichtung kam es nicht. «Im Nachhinein betrachtet, war es fast verrückt zu glauben, dass ich von Emmenbrücke, wo es nicht einmal ein regelmässiges Goalietraining gab, den Sprung ins Ausland schaffe.»

(Bild: Roger Keller)

Die Suche geht weiter
Sebastian Osigwe spricht mit Selbstironie über diese Zeit. Ruhig und reflektiert. Mit der Gelassenheit eines Vaters, der von den Flegeljahren seines Sohnes erzählt. Aber Sebastian Osigwe sagt auch: «Gott hat seinen Plan für mich. Er weiss vor mir, wie mein Leben verlaufen wird. Ich kann einfach stets mein Bestes geben.» Vielleicht ist es auch nur so halbwegs erklärbar, weshalb Osigwes sportliche Laufbahn doch einen positiven Verlauf nahm. Denn die Voraussetzungen dafür waren, nun ja, nicht gerade optimal.

Im Sommer 2013 verliess er Emmenbrücke und tourte drei Monate lang mit besagter U20-Nigerias durch Frankreich und Deutschland. Als Vorbereitung auf die U20-WM. Im Test gegen Belgien debütierte er im Dress der jungen Super Eagles. Fürs WM-Kader reichte es trotzdem nicht. «Es gab dort Spieler von Arsenal und ich kam halt von Emmenbrücke.» Also suchte Osigwe weiter nach einer Festanstellung. Sein Manager organisierte ihm die entsprechenden Bühnen. Bei Ingoldstadt wurde er vorstellig oder bei der grossen TSG Hoffenheim. Zum Vertragsabschluss kams in beiden Fällen nicht. Dafür verletzte sich Osigwe im Probetraining an der Hand und kehrte im November 2013 nach Hause zurück – ohne Verein, ohne Ausbildung. Zug 94 bot ihm einen Platz als Torhüter Nummer zwei. Immerhin. Osigwe machte kein Spiel und sass, eigentlich verletzt, bis Ende Saison auf der Bank. Die Zukunft ungewiss. Auf und neben dem Platz.

Durch Zufall ins Kleinfeld
Sebastian Osigwe kehrte im Sommer 2014 gerade aus Rumänien zurück. Wo er erneut in einem Probetraining weilte. ASA Târgu Mureș hiess der Verein. Ein Mittelfeldklub in der höchsten Liga. Ungefähr 350 Kilometer nördlich von Bukarest in Zentralrumänien beheimatet. 1300 Euro pro Monat hatte man ihm dort geboten. Als Torhüter Nummer zwei. Wieder. «Aber dafür wollte ich meine Familie nicht verlassen und in das mir unbekannte Rumänien ziehen», erzählt Sebastian Osigwe.

Dann rief plötzlich Bruno Galliker an. Der SCK Sportchef suchte einen zweiten Torhüter. Der SC Kriens war gerade abgestiegen und im Begriff sich selber neu zu erfinden. «Ehrlich gesagt standen wir damals vor der Verpflichtung eines anderen Torhüters. Der sprang aber unmittelbar vor der Vertragsunterzeichnung ab», erzählt Galliker. Er kannte Osigwes Qualitäten und das schlummernde Potential des noch immer sehr jungen Torhüters, der damals gerade erst seinen 20. Geburtstag feierte. Galliker war Osigwes Juniorentrainer, als die beiden mit der U17 des SC Kriens sensationell Schweizermeister wurden.

(Bild: Roger Keller)

Nach dem ersten Training im Kleinfeld bekam Sebastian Osigwe beim SC Kriens einen Vertrag für ein Jahr. Die Zeit der Ungewissheit endete. Gottes Plan ging auf. Vorerst. Eigentlich war Osigwe als Torhüter Nummer zwei vorgesehen. Als Stammtorhüter holte der SCK Mike Richard. Aber Trainer Jurendic rotierte auf der Torhüterposition. Jeder durfte für vier Spiele in den Kasten. Dann wurde wieder gewechselt. Bis sich Osigwe durchsetzte, zur Nummer eins wurde und mit dem SCK in die Promotion League aufstieg.

Die Entwicklung neben dem Platz
Beim SCK holte Sebastian Osigwe Verpasstes abseits des Feldes nach und begann im Sommer 2015 eine Lehre als Lebensmittelpraktiker bei der Hiestand in Dagmersellen. Er bekam festen Boden unter den Füssen. «Der SC Kriens war ein Neuanfang für mich. Im Kleinfeld bekam ich eine neue Chance und die Sicherheit, mein Leben neben dem Fussball aufzubauen.» Vorerst hiess das, Fussball und Ausbildung unter einen Hut zu bekommen. Sprich, sich fussballerisch weiterzuentwickeln und dabei die beruflichen Aufgaben nicht zu vernachlässigen. Der Fussball büsste an Priorität ein, die Ausbildung beanspruchte ihren Teil seiner Energie.

Es gab Tage, da hätte ich während des Trainings auf Kommando einschlafen können.

Um fünf Uhr war jeweils Tagwache. Dann gings von Emmenbrücke nach Dagmersellen. Feierabend um 15 Uhr. Kurz nach Hause und weiter ins Kleinfeld. «Es gab Tage, da hätte ich während des Trainings auf Kommando einschlafen können», sagt Osigwe. Trotzdem, beim SCK fand er Halt und Menschen, die sich kümmerten. Viele SCK-Teamkollegen kannte er seit Jahren, aus gemeinsamen Zeiten beim FCL- und SCK-Nachwuchs. Mit Assistenztrainer Chrigel Kurth arbeitete er seit über 10 Jahren zusammen. SCK-Masseurin Liliane Brun nennt er bis heute «Mami». «Meiner Grossmutter sage ich auch Mami. Man drückt damit in Nigeria seine tiefe Wertschätzung für Menschen aus, die sich um einen kümmern und sorgen.»

Die nächste Ausbildung
Osigwe braucht das familiäre Umfeld um zu wachsen. «Ich glaube, seine Entwicklung hat nicht mal sehr viel mit dem Training zu tun, das Umfeld und der Umgang mit ihm sind da viel wichtiger», sagt SCK-Torhütertrainer Guido Stadelmann. «Der SCK macht für seine Spieler mehr als andere Vereine. Der Verein gibt uns viel zurück. Nicht finanziell, aber im menschlichen Bereich. Deshalb sind wir wohl auch bereit, mehr Aufwand auf uns zu nehmen, als vielleicht bei anderen Vereinen», sagt Osigwe.

Das sehr intensive berufliche Tagesprogramm während der zweijährigen Ausbildung beeinflusste die sportlichen Leistungen. Dazu steht Sebastian Osigwe. Aber er biss sich durch, etablierte sich als Nummer eins im Kleinfeld und schloss die Lehre im Sommer 2017 erfolgreich ab. Um dann gleich die nächste Ausbildung in Angriff zu nehmen. Auf die zweijährige Lehre in Dagmersellen, folgt nun eine dreijährige Ausbildung zum Detailhandelsfachmann in Kriens bei der Garage Epper – auch zugunsten des Fussballs.

(Bild: Roger Keller)

Der Arbeitsweg ist kürzer, der Weg ins Training beträgt fünf Minuten und die Arbeitszeiten sind angenehmer. «Diese Entlastungen spüre ich sehr deutlich. Der Stress ist viel kleiner, ich habe den Kopf frei für den SCK.» Und das wiederum spürt selbst der neutrale grünweisse Beobachter. Osigwes gute Leistungen sind konstanter geworden. Mittlerweile ist der Torhüter zum Führungsspieler gereift. Sebastian Osigwe habe einen Entwicklungssprung gemacht, sagen alle. Vom Trainer über den Goalietrainer bis zum Sportchef. «Ich bin selbstbewusster geworden – als Torhüter, aber auch als Mensch.

Vielleicht dann noch immer, oder wieder im SCK-Dress.

Das war letzte Saison noch anders. Ich haderte bei Gegentoren, unabhängig davon, ob es mein Fehler war oder nicht.» Er ist lauter auf dem Spielfeld. Dirigiert mehr. Manchmal leiden die Stimmbänder so sehr, dass er nach dem Spiel kaum mehr sprechen kann. «Zwischendurch braucht es einen lauten Torhüter.»

Angedeutetes Interesse aus Nigeria
So scheint der von Gott vorgespurte Lebensweg des Sebastian Osigwe in durchwegs positiven Bahnen zu verlaufen. Was übrigens sein zweiter Name «Ogenna» auch irgendwie voraussagt. Wörtlich in seine Vatersprache Igbo übersetzt bedeutet der Name «Gottes Zeit ist die beste Zeit.»

Nach Sebastian Osigwes kleiner Odyssee durch die Gestaden des Klubfussballs, ankert er nun sicher im Kleinfeld-Hafen, mit vielen Perspektiven. Auf und neben dem Platz. Selbst der nigerianische Fussballverband, notabene WM-Teilnehmer 2018, hat sich den Namen Sebastian Osigwe auf den Zettel geschrieben. Mit Nigeria-Trainer Gernot Rohr telefonierte der SCK-Torhüter vor einigen Wochen erstmals. «Die haben momentan ein bisschen Probleme auf den Torhüterpositionen. Aber solange wir mit dem SCK in der dritten Liga spielen, ist ein Nati-Aufgebot wohl eher unrealistisch»,erklärt Osigwe. Dennoch, das Interesse aus seinem Vaterland ehrt ihn und bestärkt den Torhüter in seiner Entwicklung, die er weder auf, noch neben dem Platz als abgeschlossen bezeichnet. «Wenn Gott will, spiele ich Fussball bis ich mindestens 35 Jahre alt bin. Vielleicht dann noch immer, oder wieder, im SCK-Dress.»

Der Beitrag ist erschienen im Clubheft «Kleinfeld» des SC Kriens.